In unserer Familie (Erzählung)

Eine ironische Erzählung aus Corona-Zeiten.

In unserer Familie haben wir alle Typen, wie es sie sonst auch gibt. Da ist Uroma. Uroma ist der ruhige Pol in unserer Familie. Sie sagt, sie hat den Krieg überlebt, sie überlebt auch uns. Da ist Oma. Sie ist immer etwas nervös, wenn wir Opa versuchen, nicht zu erwähnen. Opa hat sich von Oma getrennt und lebt mit einer anderen Frau. Seit vierzig Jahren. Opa selbst kennen wir kaum. Er hat sich eine bessere Familie gesucht, sagt er, sagt Oma. Aber geht das eigentlich? Wir sind doch die beste Familie der Welt!

Da ist Mama, die wir so nennen, weil sie unsere Mama ist. Sie hat uns zur Welt gebracht. Etwas Dankbarkeit wäre an dieser Stelle angebracht, sagt Mama. Sagt Oma auch, aber Oma hat es aufgegeben, etwas von ihrer Tochter zu erwarten. Warum sollen wir dann Mamas Erwartungen erfüllen?! Wir wüssten noch nicht einmal, was sie von uns erwarten würde. Woher auch.

Da ist Papa, unser Fahrer. Er fährt uns überall hin. Wir denken, er sitzt gern im Auto. Auch wenn er stundenlang auf uns warten muss. Papa fährt auch Oma. Papa würde alles für uns tun, denken wir. Nie ist Papa da, wenn man ihn braucht, sagt Mama. Ja, jemand in der Familie muss doch für uns da sein! Papa verlangt übrigens keine Dankbarkeit. Er ist dankbar, wenn er uns fahren kann.

Da ist Tante Mimi, die es gar nicht leiden kann, „Tante Mimi“ gerufen zu werden. Mimi meint, wenn Uroma einmal nicht mehr, tritt sie in ihre Stapfen. Tante Mimi aber kann gar nicht kochen! Tante Mimis Mann sagt, besser gut bestellt als schlecht gekocht. Die beiden haben immer jemanden an ihrer Tür, der ihnen etwas bringt, auch wenn sie mit dem Trinkgeld knauserig sind.

Da ist Onkel Fitus, der „Ornithologe“. Er hatte schon so viele Jobs wie andere Freundinnen. Eine Freundin hatte Onkel Fitus noch nie. Jedenfalls keine, die er Uroma nach Hause gebracht hätte. Uroma weigert sich, diese „Bordsteinschwalben“, wie Uroma sagt, an unserem Familientisch zu haben. Zu einer echten Bindung sei Onkel Fitus nicht fähig, sagt Uroma trocken. Onkel Fitus sagt stimmt nicht, und hält ihr den leeren Teller hin.
Tante Mimi, Mama und Onkel Fitus sind Geschwister, aber nicht ein Herz und eine Seele. Sie streiten sich oft. Uroma sagt, sie streiten sich gern. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, sagt Oma. Warum du dann nicht mit Opa, fragen wir, und ernten einen hysterischen Wutausbruch.

Wir, das sind die Geschwister A, B, C. Wir wissen nicht, wie es unsere Eltern geschafft haben, Zeit für unsere Zeugung gefunden zu haben, wenn Papa immer unterwegs ist. Ja, wir haben auch normale Namen, aber wozu? Es reichen auch die Anfangsbuchstaben unserer Namen. Unserer Namen haben wir erst mit der Einschulung erfahren, weil wir nicht reagierten, als die Lehrerin uns aufrief. Sie meinte, wir hätten etwas mit den Ohren. Mama meinte, das sieht sie genauso. Papa wartete im Auto. Wir aber haben alles verstanden, nur nicht, wer diese Anastasia, diese Bella und dieser Christian sein sollen.

Dann kommt dieses Corona-Jahr 2020. Papa im Lockdown im Auto, da ging sogar Mama zu ihm raus und bat ihn, ins Haus zu kommen. Die Nachbarn würden sich schon wundern. Naja, eigentlich hat sie ihn befohlen, weil sie selbst schnell wieder ins Haus wollte. Oma stand hinterm Fenster. Mama hätte es lieber gesehen, wenn Oma Papa ins Haus geholt hätte. Uroma hat Pfannkuchen gemacht und das Fenster weit offen gehabt. Papa brauchte nur seine Nase zu folgen und hat sich gleich zu Tisch gesetzt.

Mama im Corona-Jahr: das war der Wettlauf mit Oma, wer von den beiden lauter und länger schimpfen kann. Über die Maske. Auf ihrem Make-up. Auf ihrem Mundwerk. Mama und Oma lassen sich von niemanden das Wort verbieten. Sie haben das Recht zu ihrer Meinung. Jederzeit. Und überall, seufzt Papa. Über den Abstand, den Papa gar nicht so schlecht findet, Mama aber hasst. Mama und Oma sind auch ohne Corona mit Abstand die besten Lästerer. Gesellschaftsversteher, sagt Oma. Sie lästern nicht, sie machen sie ein Bild von der Gesellschaft. Und die ist doof. Die Corona-Zeit beweist ihnen täglich, wie doof alles ist. Schon vorher war und sich eben jetzt umso deutlicher zeigt. Na, dann ist ja Corona für etwas gut, sagt Papa. Und Mama fragt Oma, ob er nicht vielleicht doch wieder im Auto sitzen dürfte. Unser Bruder bietet Papa Asyl in seinem Zimmer an. Damit ist der Fall für Mama erledigt.

Papa im Corona-Jahr: Wir Kinder glauben, es ist ihm zu viel Mama in dieser Zeit. Wir meinen, er greift häufiger zur Flasche. Wir wissen nur nicht, was er trinkt. Schwesterchen meint Bier, Brüderchen meint Schnaps, da Papa es schafft, ziemlich schnell auf dem Sofa einzuschlafen. Ich denke, er macht so ‘ne Art Mentaltraining. Er kann unheimlich schnell in ein Paralleluniversum verschwinden. Quatsch, sagt Mama, welcher Außerirdische meldet sich durch lautes Schnarchen ab?! Papa ist einfach lebensmüde, deswegen kann er so leicht abschalten, sagt Oma. Irgendwie war er das schon immer, wirft sie hinterher. Uroma sagt, Papa sucht das Glück im Anderswo. Oma schaut Uroma böse an und sagt, wer sie denn um ihre Meinung gebeten hat. Uroma sagt: Morgen gibt es selbstgemachte Kartoffelpuffer. Und das Wort „selbstgemachte“ betont sie dabei so komisch, dass Oma genervt wegschaut, wir andern aber uns alle freuen.

Oma im Corona-Jahr: Ihr fehlt das Getue, das sie sonst an den Tag legt. Es passiert ihr einfach zu wenig. Um etwas Würze ins Leben zurück zu bekommen, geht sie ohne Maske durch das Stadtzentrum, lässt sich ansprechen und sucht die Konfrontation. Zuhause führt sie eine Strichliste öffentlicher Streitmomente. Manchmal steht sie länger davor und lächelt Gedanken verloren. Einmal kam sie ganz empört nach Hause, regte sich schließlich ab, nachdem sie die Kalbroulade von Uroma genossen hatte, und sagte dann kurz, knapp und zufrieden: Besser als die Streitigkeiten mit Opa.


Wir im Corona-Jahr: Endlich einmal Weihnachten ohne Tante Mimi, ihrem Mann und Onkel Fitus mit einer seiner seltsamen Begleitungen, die niemand kennt. Wir haben viel frei, ziehen uns in unser Kämmerlein zurück und freuen uns auf das Mittagessen von Uroma. In der Schule ist es nicht schwerer geworden. Brüderchen schaffte dieses Mal sogar die Klasse ohne Sitzenbleiben. Wir lernten, wie man Missverständnisse mit den Lehrern oder technische Probleme mit der Internet-Konferenz hat. Oma, Mama und Papa nehmen uns zu den Demonstrationen gegen Masken, Abstand und Hände waschen mit. Wir dürfen dabei ganz offiziell ohne Maske sein. Oma und Mama gehen ohne Maske, dafür aber mit unheimlich gerötetem Gesicht. Jeder Zuschauer wird von den beiden in eine Situation gezerrt. Papas Gesicht ist irgendwie aschfahl. Diese Demonstrationen sind die ersten Familienausflüge, die wir überhaupt unternehmen. Irgendwie toll.


Uroma im Corona-Jahr: Sie hält sich da ‘raus. Wenn wir nach Hause kommen, hat sie schon den Tisch gedeckt und es riecht gut aus der Küche. Uroma ist die Beste. Dann ruft sie bestimmt: Hände waschen! Oma und Mama maulen jedes Mal, gehorchen aber. Wir sitzen dann schon mit Papa mit gewaschenen Händen am Tisch. Uroma setzt Oma und Mama an einen Extratisch. Sie sagt, ihr seid mit Abstand die Besten. Papa gluckst dann immer vor Freude. Und wenn Oma und Mama protestieren, sagt Uroma kurz und bestimmt: Klappe halten, Hinsetzen und sich an die Regeln halten. Hier gelten ihre Regeln, solange sie noch das Zepter in der Küche schwingt. Gebe Gott, dass sie noch lange lebt!

 

Th. Dahms

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